»Bitte sprechen Sie nicht mehr von
‚Spiritualität‘. Dieses Wort ist mittlerweile so ausgelaugt und fade geworden. Es
bezeichnet ja wirklich alles und nichts. Man kann öfter einmal solche Sätze hören, ein
bestimmter Mensch sei ‚so spirituell‘ oder eben ‚gar nicht spirituell‘.
Ich frage mich, was damit ausgesagt werden soll. Geht es bei
der Beschäftigung mit Spiritualität vielleicht noch am ehesten um die Sehnsucht
nach etwas Geistigem, nach etwas Höherem, Reinem, Perfekten? Ist es das, was Sie
mit ‚Spiritualität‘ meinen?
Sprechen Sie demnach von Ihrer Sehnsucht, wenn Sie dieses
Wort benutzen? Oder meinen Sie vielleicht bestimmte Praktiken, Meditationsformen,
Yoga, QiGong, Räucherrituale, Gottesdienste? Oder eine Mischung aus beidem?
Ihre Sehnsucht und bestimmte Praktiken, die dieser Sehnsucht Ausdruck
verleihen?
Für mich ist die Frage viel interessanter, was Sie dieses Höhere, Reinere, Perfekte überhaupt suchen lässt. Was bringt Sie dazu, dies anzustreben?
Sehen Sie, dieser Begriff ‚Spiritualität‘ meint im Ursprung ‚Geistiges‘,
oder ‚Hauch‘, er bezeichnet offenbar etwas sehr Flüchtiges, schwer Greifbares.
Das schwer Greifbare ist für uns Menschen sehr verführerisch, denn wir können
alle möglichen Geschichten da hineinprojizieren. Der Begriff meint auch
bestimmte Haltungen, die das Verbundensein mit dem Geistigen, einer höheren
Macht, dem Jenseits oder der Unendlichkeit ausdrücken sollen. Das sind auch
solche flüchtigen Begriffe. Es bleibt schwer greifbar. Sicher ist, dass gerade
diese Haltungen und die daraus abgeleiteten Wahrheitsansprüche der Grund
vielerlei Konflikte sind; innerer wie äußerer.
Alle diese sog. spirituellen Richtungen, zu denen auch die großen
Religionen gehören, und ihr Wunsch, eine ‚höhere Realität‘ zu erfahren, oder
wenigstens doch viele Geschichten darüber zu erfinden und permanent zu
wiederholen, entspringen eigentlich doch nur der Angst des Menschen. Angst vor
einer Welt, in der es Krankheit und Tod gibt, Kriege, Hunger und Armut, in der es
keinen garantierten Weg einer geglückten Existenzsicherung für den einzelnen
und die vielen gibt; es gibt keinen dauerhaft sicheren Schlupfwinkel für uns. Wir
wissen, eines Tages werden wir sterben. Aber wir wissen nicht wann. Es kann in
jedem Moment sein. Oder nicht?
Es scheint vor diesem Hintergrund quasi natürlich, dass sich
die Menschen etwas ausdenken müssen, das ihnen diese Angst nimmt. So könnte man
sagen, dass die Spiritualität des Menschen ihren Anfang in der Wahrnehmung und
Einsicht in die eigene Sterblichkeit hat. Aus dieser Angst sind alle diese Erfindungen,
Mythen, Kulte und Rituale hervorgegangen. Sie entspringen dem Horror, den die
Menschen angesichts der eigenen, letztlich permanenten Lebensbedrohung -oder beim
Anblick des Todes, der über andere kommt, empfinden. Der Anblick dieses Endes
und seiner Konsequenzen, ist für die meisten Menschen ein Schock, etwas
Unvorstellbares, die Gewissheit, selbst einmal sterben zu müssen, etwas
Furchtbares, das gerne und mit allen Mitteln zur Seite geschoben wird.
Dies kann man sehr gut durch spirituelle Überzeugungen und
ganze spirituelle Parallelwelten. Ein ganzes aufwändiges System an Bildern,
Texten, Priestern, Mächten, Haupt- und Nebenfiguren wird von den interessierten
Gründern, Verwaltern und Gläubigen dieser Systeme ins Leben gerufen und am
Leben erhalten.
Das Geistige also, wie es die meisten Menschen verstehen, entspringt
der Angst. Dieses Geistige ist also eine Illusion, die aus der Angst entspringt
und wegen Angst aufrecht-erhalten wird. Egal, ob es in diesen Systemen um
Erleuchtung oder das Einssein mit etwas Höherem, dem Kosmos oder einem Gott geht.
Warum müssen wir solche Vorstellungen überhaupt entwickeln?
Vorstellungen, die aus Angst und Vergleichen kommen. Wir vergleichen uns, d.h.
die Vorstellung, die wir von uns selbst haben, mit der Vorstellung, die wir von
etwas Höherem, etwas Perfektem haben. Merken Sie, wie absurd das ist? Merken
Sie, dass Sie dadurch das genaue Gegenteil von dem erzeugen, was Sie angeblich
erzeugen wollen? Nein? Dann bleiben wir zunächst beim ‚Vorstellungenhaben‘.
Ich mache mir also eine Vorstellung, eine Idee von mir.
Diese Idee wird immer limitiert sein, nicht wahr? Denn wie könnte ein endliches,
limitiertes Wesen wie der Mensch mit einem nur sehr begrenzten Zugang zu
Wirklichkeit und Wahrheit andere Ideen hervorbringen als solche, die sehr
limitiert sind? Ich habe dann also als erstes eine limitierte Idee von mir
selbst erzeugt. Und dann mache ich mich daran, mir eine Idee von der
Perfektion, vom Höheren, von Gott zu machen. Wie könnte denn aber ein Wesen,
das nicht einmal von sich selbst eine klare, vollständige Vorstellung hat, eine
angemessene Vorstellung von der Perfektion, vom Göttlichen entwickeln? Aber
genau das haben alle Religionen getan und tun alle spirituellen Schulen mehr
oder weniger.
Schauen Sie, ich möchte niemanden kränken oder von etwas
überzeugen, aber Sie können doch ganz einfach sehen, was ich meine. Und wenn
Sie es sehen, können Sie sich fragen, ob Sie tatsächlich in einer Fiktion leben
möchten oder nicht.
Denken Sie auch einmal an den Respekt, den man diesen Dingen
entgegenbringt. Er entspringt auch der Angst und ist daher gar kein Respekt,
sondern eben Angst. Ich mache meine Gebete, meine Verneigungen, tue gute Werke,
versuche, meine Instinkte zu unterdrücken und mir eine Moral zu geben, weil ich
Angst habe. Denn tue ich all das nicht, dann sündige ich und werde früher oder
später dafür bestraft. Das ist in allen diesen spirituellen Parallelwelten so.
Die Strafe ist jeweils unterschiedlich angelegt, entspricht den kulturellen
Vorstellungen, aber sie ist immer vorhanden und weil ich nicht bestraft werden
will, passe ich mein inneres und äußeres Leben diesen frei erfundenen Systemen
an.
Die Vorstellung, die ich von mir habe und die, die ich von
einem perfekten Wesen oder Zustand meiner selbst habe, wurden beide von mir
angefertigt. Entweder habe ich sie eins zu eins übernommen oder ein wenig
abgewandelt und mir dann zu eigen gemacht. Aber ich bin immer ihr Erzeuger,
denn ich platziere und modifiziere sie in meinem Bewusstsein, gebe ihnen Raum,
nähre sie.
Diese Vorstellungen sind frei erfunden und halten keiner
noch so nachsichtigen Prüfung stand. Oder? Ich vergleiche also eine der von mir
erzeugten Vorstellungen mit einer anderen von mir erzeugten Vorstellung. Beide
Vorstellungen entspringen meiner Phantasie, meinem limitierten Verstand. Und
der Vergleich beider limitierter und fantastischen Vorstellungen soll mir dann
den richtigen Weg zeigen, meine Probleme zu lösen, soll mir helfen, mich zu
entwickeln, zu verändern. Wie soll das eigentlich möglich sein?... Ich möchte nur,
dass Sie darüber nachdenken. Denn Sie können nicht frei sein, wenn Sie in
solchen Welten leben möchten, als wäre Ihre geistige Welt eine Art Roman.
Die Bewegung in solchen Welten verschafft Ihnen eine trügerische
Sicherheit. Sie teilen Ihre Phantasien
mit anderen, die dieselben Vorstellungen haben. Sie bestärken sich gegenseitig
in ihren Phantasien. Und je öfter Sie sie wiederholen, desto mehr erscheinen
sie Ihnen als wahr und wirklich. Ihre Intensität nimmt durch Wiederholung zu, und
auch die kleinen Modifikationen, die Sie sich gestatten, bestärken das alte
Konstrukt, das immer noch der Kern Ihrer Phantasie ist. Und solchen
Konstrukten, den Ideen und Empfindungen, die aus solchen Parallelwelten kommen,
vertrauen wir bedeutsame Entscheidungen für unser Leben an, richten unser Leben
gar vollständig an deren Forderungen aus.
Ist das nicht absurd? Wie kommt es, dass wir die Dinge nicht
sehen können und wollen, wie sie sind, dass wir immer in solche Ersatzwelten
fliehen müssen und ihre Bedeutung und Wirksamkeit auch noch dadurch permanent erhöhen,
dass wir ihre Regeln -die ja auch frei erfunden sind, befolgen, dass wir andere
zur Befolgung derselben Regeln missionieren wollen, dass wir ganze Gesellschaften
versuchen, daran auszurichten. Haben wir nicht schon genug Elend, Kriege und
Konflikte dadurch gesehen in unserer Geschichte? Offenbar nicht, sonst würden
wir ja anders handeln.
In all diesen Dingen gibt es keine Sicherheit… Heute sagen
viele Menschen, dass sie die Wahrheit ihrer Meinungen ja ‚spüren‘ könnten, eine
Ansicht, eine Meinung fühle sich so stark an, wie eine Gewissheit sich nur
anfühlen könne. Sie nehmen also die Intensität ihres Gefühls als Ausweis für
die Wahrheit ihrer Überzeugungen und Vorurteile. Ich frage nochmals, ist das
nicht absurd? Gerade unsere Gefühle, was wir schätzen oder ablehnen, sind bestimmt
von unserer Herkunft, unserer Prägung. Im Bereich der Gedanken lehnen wir diese
Prägungen oft ganz entschieden ab, wir wollen nicht so denken wie unsere Eltern
und schon gar nicht so sein. Tatsächlich sind wir unseren Gefühlen gegenüber
nicht auf die gleiche Weise kritisch. Aber vielleicht sollten wir dies sein.
Sie stammen letztlich aus derselben Quelle, sie sind in Teilen ererbt in Teilen
anerzogen und auch auf subtile Weise durch die uns umgebende Kultur in uns eingedrungen.
Warum sollten wir also unseren Gefühlen Gehör schenken, mehr
Gehör als unseren Gedanken, wenn es um die Erkenntnis der Wahrheit geht? Aber
sehr viele Menschen tun dies heute, sie haben ihre Gefühle in den Status eines
sicheren Wahrheits- und Richtigkeitsindikators erhoben, sie sprechen davon,
dass sich etwas ‚richtig anfühle‘. Aber fühlt es sich nicht auch für den
Trinker richtig an, jetzt eine Flasche Whiskey zu trinken, fühlt es sich nicht
auch für den Mörder richtig an, jetzt den Schuss abzugeben?
Wissen Sie, das ist doch alles ziemlich fragwürdig. Aber
wenn Sie das nicht durchschauen, wenn Sie alle diese Parallelwelten, in die Sie
im Laufe Ihres Lebens hineingeraten sind, nicht hinterfragen, dann werden Sie
nicht frei sein können. Aber mit der Freiheit beginnt erst alles andere.«